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9. Mai 2011 1 09 /05 /Mai /2011 23:16

Alina schreibt:

 

Von der Einstimmigkeit, in die Mehrstimmigkeit

 

Die Entwicklung der Sequenzen

 

Trotz der Festlegung und Vereinheitlichung der Choräle in der Gregorianik, blieben neue Kompositionen unterschiedlich und individuell. Folglich brachte es einem Sänger oft Schwierigkeiten, wenn er besonders lange Melismen auswendig lernen musste. Da sich die Syllabik im Gegensatz zur Melismatik als wesentlich leichter zu merkende Form erwies, erfand man für solche langen Melismen einen neuen, syllabischen Text. Dies vereinfachte das Auswendiglernen der Lieder erheblich und war zudem eine Möglichkeit, die Stücke immer neu zu verändern –zu tropieren (Tropus). Die Menschen begannen die neuen Texte nun auch in Reimform zu verfassen, was das Auswendiglernen vereinfachte und zudem schöner klang. Ein gereimter Tropus wird Sequenz genannt (nicht zu verwechseln mit dem Sequenzieren eines Motivs). Die Sequenzen waren zunächst einstimmig.

Fünf Textdichtungen aus dieser Zeit sind uns erhalten geblieben, die heute noch zu Feiertagen in der Kirche gespielt werden. Vor allen Dingen im Barock und in der Klassik, wurden sie reichlich vertont; z.B. das „Dies irae“ im „Requiem“ von Mozart oder das „Stabat mater“ (Pergolesi) oder das „Veni creator spiritus“(in Mahlers 8. Sinfonie).

 

 

Erste Mehrstimmigkeit

 

Langsam begann man sich der Zweistimmigkeit anzunähern. Anfänglich wurde ein Lied mit zwei „Stimmen“ gesungen, wobei die zweite einfach die Quinte der ersten war. Dies betonte die Quinte (Oberton) besonders gut und sorgte für einen volleren Klang. Heute wird es „Parallele Einstimmigkeit“ genannt.  Eine andere Möglichkeit zur Zweistimmigkeit war es, die zweite Stimme einen gleich bleibenden Unterton bilden zu lassen. Diese Anfänge wurden in einem Musiktraktat mit Namen „Musica Enchiriadis beschrieben. Sie gingen vor allen Dingen von dem französischen Kloster St. Martial aus –daher der Name „St. Martial-Epoche“. Dies war bereits zur Zeit der Romanik.

 

Diese neue Art der Musik bedeutete Freiheiten und Schwierigkeiten zugleich. Einerseits gab es nun ein viel größeres Spektrum an Möglichkeiten für die Komponisten, aber andererseits stellten sich auch ganz praktische Fragen: Wie konnte man zur Zeit der Neumen die Melodien zweier Stimmen -aber zugehörig zu einem Lied, aufschreiben? Wie genau sollte man sich den Klang zweier Melodien vorstellen, die genau zusammen passen müssen? Für die Komponisten öffnete sich ein ganz neues Kapitel der Musik.

Man fand mehrere Möglichkeiten mit der Zweistimmigkeit umzugehen, zumal das Aufschreiben dadurch erleichtert wurde, dass man noch keinen Rhythmus aufzuschreiben brauchte. Besonders beliebt war es, die eine Stimme stark in die Länge zu ziehen, bzw. die Töne sehr lange auszuhalten, während die andere Stimme mit vielen Tönen auf dieser Basis aufbauen konnte. Hierzu ein Hörbeispiel („Cunctipotens Genitor Deus“):

 

·        Das Lied hat einen kurzen, selbstverständlich lateinischen Text

·        Beide Stimmen sind melismatisch

·        Die obere Stimme hat viele Töne, die untere nur sehr wenige, die sie bis zur nächsten Silbe aushält

·        Beide habe den gleichen Text und treffen sich jeweils bei den Silben

·        Der Klang ist sehr schön, er wirkt frei, voll und strahlt Ruhe aus

·        Typisches Kirchenlied für die Romanik

 

 

 

Gotischer Kirchenbau und die gespaltene Gesellschaft

 

Die Zeit der Einstimmigkeit wird der gregorianischen Epoche und der Romanik zugeordnet, während die Mehrstimmigkeit stark mit dem neuen Kirchenbau der Gotik zusammenhängt, bzw. sogar zwingend dazu gehört. Die St.Martial-Epoche ist eine Zeit, die am Übergang steht zwischen Romanik und Gotik.

Die romanischen Kirchen zeichnen sich besonders durch ihre Rundbögen und ihrem niedrigen, „gemütlichen“ Bau aus. Im Vergleich zu den gotischen Kirchen sind sie schlicht und übersichtlich konzipiert.

Die Gotik hat ihren Ursprung in Frankreich –und fasste neben Spanien und England (Westminster Abbey) schließlich auch in Deutschland Fuß. In Italien blieb sie jedoch aus. Die erste gotische Kirche ist Notre Dame, in Paris. In Deutschland wiederum, wurden einige der größten gotischen Kirchen gebaut, z.B. der Kölner oder der Freiburger Dom. Das Verhältnis von Breite zu Höhe hat sich im Vergleich zu den romanischen Kirchen verstärkt: Die Kirchen sind nun dreimal so hoch wie breit, folglich haben die Architekten mit völlig neuen Maßstäben zu rechnen. Die für die Gotik berühmten Spitzbögen sind  eigentlich architektonisch als Stützelement bedingt; die Außenseite der Kirchen ist ebenfalls von Strebepfeilern besetzt und gibt ihnen ein klobiges Aussehen, weshalb man viele Verziehrungen hinzufügen musste. Der hohe Turm ist in der Mitte offen (Spitzbögen) –eine Maßnahme um die Belastung durch den Wind abzuschwächen. Viele Wände haben hohe und bunte Glasfenster, damit weniger Gewicht auf den Grundmauern lastet. Die typischen gotischen Merkmale sind also zwingend notwendige, architektonische Mittel, um der neuen Kirchenform gerecht zu werden.

Was aber bewegte die Menschen, auf einmal so „nahe bei Gott zu sein“?

Damals gab es zwei große philosophische Gruppen mit gegenteiligen Ansätzen: Die „Realisten“ waren der Auffassung: (aus dem Lateinischen übersetzt) „Ich glaube, damit ich die Welt verstehe“. Die Welt baut auf dem Glauben auf –alles hat seine festgelegte und unumgängliche Ordnung. Die „Nominalisten“ sagten hingegen: „Ich nehme Einsicht in die Welt, muss meinen Geist zum denken anregen, damit ich glauben kann“.  Diese Aussage ebnet den Weg der Wissenschaften und der Denker, gibt dem Menschen eine große Freiheit –und macht ihn ebenso einsam. Ihm fehlt die Sicherheit des unerschütterlichen Glaubens.

Diese beiden Gedanken werden in dem Bau der romanischen und gotischen Kirchen verdeutlicht. In einer romanischen Kirchen hat man ein unbestimmtes „Heimat- und Geborgenheitsgefühl“, während in den gotischen Kirchen das Streben nach Gott und die Ehrfurcht vor ihm den Bau bestimmen und dem Menschen ein freies, zugleich aber demütiges Gefühl vermitteln-

In einem solchen Raum entwickelte sich die Mehrstimmigkeit der Kirchengesänge. Sie verkörpert das Gefühl des damaligen, mittelalterlichen Glaubens und ist einer der Grundsteine, um die Menschen und ihre Gefühle zur Zeit der Gotik zu verstehen.

 

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